Zeit der Herausforderungen und Chancen

23.02.2023

ES GIBT VIEL ZU TUN. PACKEN WIR ES AN. MONIKA KÖPPL-TURYNA, DIREKTORIN DES INSTITUTS FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG ECO AUSTRIA, FASST DIE AKTUELLEN ENTWICKLUNGSSTRÄNGE EBENSO WIE DIE HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN ZUSAMMEN UND FORDERT, DEN GESAMTSTANDORT EUROPA NEU ZU DENKEN.

Als wären die wirtschaftlichen Herausforderungen nach Corona mit unterbrochenen Lieferketten, Ressourcenknappheit und steigender Inflation nicht schon genug, kommt, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, nun auch noch eine veritable Energiekrise hinzu. Vor allem Volkswirtschaften wie die österreichische, die deutsche oder die italienische stehen unter Druck, ihre Bezugsquellen so rasch als möglich zu diversifizieren und ihre Abhängigkeit von Russland als Hauptlieferant drastisch zu verringern. Das hat Folgen.

Die Energiepreise in Europa setzen private Haushalte und Unternehmen unter Druck, die österreichischen Betriebe des Verarbeitenden Gewerbes ganz besonders. Solange sie Güter herstellen, die kaum international gehandelt werden, lässt sich das noch bewältigen , solange die Kostensteigerungen zumindest anteilig an die KonsumentInnen weitergegeben werden können. Für klar exportorientierte Unternehmen aber bedeuten hohe Energiepreise einen erheblichen Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA und Asien. Die Erdgaspreise an den Börsen belaufen sich in Österreich für das Jahr 2026 auf knapp fünfzig Euro/MWh, während Unternehmen, die in den USA produzieren, voraussichtlich wohl nur zehn Euro/MWh aufwenden müssen. Die größte Herausforderung für die kommenden Jahre wird daher der Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie sein – nicht nur aufgrund der Energiefrage, sondern auch, weil sie sich obendrein noch den tiefgreifenden Veränderungen am Arbeitsmarkt stellen muss.

Die Industrie ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam für die österreichische Wirtschaft: Die für Innovationen so wichtige Forschung und Entwicklung in Österreich findet vor allem im Verarbeitenden Gewerbe statt: 66 Prozent der gesamten F&E Ausgaben aller Unternehmen im Jahr 2019 wurden dort aufgewendet, und in den Top Ten der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt EPO finden sich auch nur Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes. Hinzu kommt, dass die Wertschöpfungsexporte in vielen energieintensiven Industrie-Branchen wesentliche Vorteile für Österreich mit sich bringen.

Zu diesen Branchen zählen etwa der Bau, die Papierproduktion sowie die Metall- oder Holzbearbeitung – neun Branchen unter den Top Ten gehören zum Verarbeitenden Gewerbe. Beherbergung und Gastronomie hingegen sind trotz ihrer hohen Bedeutung hierzulande nur auf dem zwölften Platz. Und angesichts des Klimawandels geht auch der komparative Vorteil des Wintertourismus immer mehr verloren, sodass die Produktion für den Export an Bedeutung gewinnen wird.

Es liegt nur ein schmaler Grat zwischen unserer Wettbewerbsfähigkeit und der Erreichung unserer Umweltziele. Ohne einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien werden wir ins Schwanken geraten. Dafür braucht es aber Flächen und eine deutlich schnellere Bürokratie; die Notverordnung der EU auf Basis von Paragraph 122 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist da ein erster Schritt: Mit ihr soll eine deutliche Beschleunigung der Genehmigungen für den Bau von Solaranlagen, Wärmepumpen und Windrädern erreicht werden. Und so, wie die ArbeitnehmerInnen und das Kapital in Europa Freizügigkeit genießen, braucht auch die Energie „freie Fahrt“ innerhalb der EU. Die Differenz der Stromkosten in Deutschland und in Österreich beispielsweise führt laufend zu Anpassungen in der Energieerzeugung, die mit entsprechenden Zusatzkosten verbunden sind. Ein Ausbau der internationalen Leitungskapazitäten könnte grundlegend dazu beitragen, diese Kosten zu verringern.

In Europa wird allzu oft nach dem „Banane“-Prinzip agiert – Build absolutely nothing anywhere near. Arbeitsplätze, Innovationen und damit auch unser Wohlstand gehen so breitflächig verloren. Die derzeitige Krise ist also hart, aber sie bietet gleichzeitig auch die Chance, nun den notwendigen Ausbau der Energieinfrastruktur zu forcieren und damit sowohl unserer Umwelt als auch den produzierenden Unternehmen in Europa einen wertvollen Dienst zu erweisen.

Der Arbeitsmarkt ist die zweite große Herausforderung: Im Oktober 2022 gab es laut dem Stellenmonitor vom Wirtschaftsbund österreichweit 240.000 offene Stellen. 20.000 davon im Maschinenbau, weitere 26.000 im Baugewerbe. Der Arbeitskräftemangel schadet uns allen, wenn Aufträge nicht mehr bearbeitet werden können und dadurch Umsätze verloren gehen – und dies trifft inzwischen auf mehr als sieben von zehn aller Unternehmen zu, die in einer Umfrage aus dem April 2022 die Belastung als stark oder sehr stark eingestuft haben. Demographische Entwicklungen werden diesen Trend noch verstärken – eine Prognose der Statistik Austria zeigt einen Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von derzeitig 5,5 Millionen auf 5,2 Millionen in 2040, bei gleichzeitigem Anstieg der Menschen 65+ von 1,7 auf 2,5 Millionen.

Zur Person

Monika Köppl-Turyna zählt zu den einflussreichsten Ökonomen Österreichs. Nach ihrer Promotion an der Universität Wien hatte sie von 2011 bis 2015 eine Assistenzprofessur am Lisbon University Institute inne, wechselte dann als Senior Economist zur Agenda Austria und habilitierte 2020 an der Johannes Keppler Universität Linz, im selben Jahr wurde sie als Direktorin von EcoAustria bestellt. Im Ökonomen-Ranking von FAZ/NZZ/Die Presse 2021 belegt sie in Österreich den 5. Platz.

Das erhöht den Druck auf die öffentlichen Finanzen – und auch auf die SteuerzahlerInnen und den Arbeitsmarkt. Die notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt durchzuführen und das Arbeitsangebot zu erweitern, wäre deshalb unbedingt sinnvoll: 48,2 Prozent der Österreicherinnen arbeiten in Teilzeit, davon 25,2 Prozent der Frauen ohne Kinder und 72,8 Prozent der Frauen mit Kindern unter 15 Jahren. Um dieses Arbeitskräftepotential zu heben, muss massiv in den Ausbau der Kinderbetreuung investiert werden, in Salzburg etwa werden aktuell nur drei von zehn Kindern in einer Betreuung unterrichtet, die mit einer Vollzeitbeschäftigung vereinbar wäre. Österreichweit ist das die Hälfte aller Kinder – stark positiv getrieben von Wien. Hinzu kommt, dass das faktische Pensionseintrittsalter in Österreich bei den Männern mit 60,2 Jahren deutlich unter dem OECD-Schnitt von 63,8 Jahren liegt. In Schweden und in der Schweiz wird über das 65., in Neuseeland sogar über das 68. Lebensjahr hinaus gearbeitet. Hierzulande liegt die Beschäftigungsquote in der Gruppe der 55- bis 64-Jährigen mit 53 Prozent satte 20 Prozentpunkte unter Schweden – das wären umgerechnet etwa 250.000 Personen. Wer die Menschen länger am Arbeitsmarkt halten will, muss deshalb auch die Gesundheitsförderung verbessern – gerade in den körperlich anstrengenden Industrieberufen. Und schließlich müssen Arbeitslose in Österreich wieder besser integriert werden. Trotz eines Rekords an offenen Stellen waren im Oktober 2022 immer noch 250.000 Menschen arbeitslos – kein Wunder angesichts mancher Nettolöhne, die kaum über den staatlichen Leistungen liegen. Eine Reform des Arbeitslosengeldes – mit sinkenden Ersatzraten über die Zeit und einer Abschaffung der Zuverdienstmöglichkeiten - sowie eine steuerliche Entlastung der Einkommen würden sich positiv auswirken – nicht nur auf die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs, sondern auch auf die gesellschaftliche Lage vieler Gruppen am Arbeitsmarkt wie etwa die der Mütter oder der älteren ArbeitnehmerInnen.

 

Der Gesamtstandort Europa muss ganz grundsätzlich neu gedacht werden. Zu Beginn der 2000er Jahre lag der Anteil des BIPs aller EU-Länder an der Weltwirtschaft bei 25 Prozent, gleichauf mit den USA. Inzwischen ist er auf 18 Prozent gesunken, die US-Wirtschaft bleibt bei 25 Prozent. Zeitgleich ist der Anteil Chinas von drei auf 17 Prozent gewachsen. Die EU fällt also hinter die USA zurück, China holt auf. Noch düsterer schaut es bei den Investitionen aus: Der weltweite Anteil der Bruttoinvestitionen liegt in der EU bei nur 15 Prozent, in den USA sind es 20 und in China gar 29 Prozent. Der Anteil der Patente fällt in der EU ebenfalls seit Jahren zurück: Er liegt heute bei nur 18 Prozent verglichen mit 30 Prozent im Jahr 1999. Die neuesten Entwicklungen in Europa haben zwar mittelfristig das Potenzial, der Wirtschaft einen Innovationsschub zu geben – hohe Preise führen zu ressourcenschonenden und innovativen Produktionsprozessen – aber der Weg dorthin wird nur geländegängig sein, wenn auch die hierfür notwendigen Reformen vorgenommen werden.

Die Europäische Wettbewerbsfähigkeit steht vor einer besonders herausfordernden Phase. Wir können das schaffen. Aber dafür braucht es eine konsequente Abkehr von vielen liebgewonnenen Gewohnheiten in der EU: Also Deregulierung statt Bürokratie, Integration statt Abschottung, Entlastung statt neuer Abgaben. Wirtschaft darf nicht zentral gesteuert werden, wenn sie langfristig erfolgreich sein soll. Technologieoffenheit und Vertrauen in die Innovationskraft der BürgerInnen und Unternehmen, gute Rahmenbedingungen für ein Umfeld, in dem Besseres entstehen kann, sind gefragt – nicht erst jetzt, aber jetzt erst recht.